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“Angst vor Menschen mit Migrationsgeschichte habe ich nicht”

Zwei IB-Kolleginnen nehmen Stellung zu den Aussagen des Kanzlers über “Stadtbild” und “Töchter” in Deutschland

Lena Seidel (links im Bild) und Julia Aertken, Mitarbeiterinnen des Internationalen Bundes (IB), sprechen über die "Stadtbild"-Aussage von Kanzler Merz. Fotos: privat

Der Bundeskanzler sagte vergangene Woche, angesprochen auf den politischen Rechtsruck in Deutschland, unter anderem, dass seine Regierung frühere Versäumnisse der Migrationspolitik korrigiere. Wörtlich fuhr er fort: “Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen.” Dies wurde von mehreren Seiten öffentlich als diskriminierend gewertet.

Darauf angesprochen sagte der Kanzler Anfang dieser Woche: “Fragen Sie Ihre Kinder, fragen Sie Ihre Töchter, fragen Sie im Freundes- und Bekanntenkreis herum: Alle bestätigen, dass das ein Problem ist – spätestens mit Einbruch der Dunkelheit.”

Lena Seidel von der Stiftung Schwarz-Rot-Bunt des IB und Julia Aertken vom Referat “Jugend, Chancen, Demokratie” beschäftigen sich regelmäßig mit den angesprochenen Themen. Im Interview nehmen sie Stellung.  

Können Sie diese Aussagen persönlich und fachlich nachvollziehen?

Julia Aertken: Nein, ich kann die Aussagen weder persönlich noch fachlich nachvollziehen. Sie spiegeln ein Weltbild wider, gegen das wir im IB und mit der Stiftung Schwarz-Rot-Bunt täglich arbeiten.  

Lena Seidel: Darüber hinaus gibt er mit seiner “Töchter”-Aussage einen vermeintlichen Wunsch nach mehr Schutz für Frauen vor – und spaltet somit die Gesellschaft nur noch mehr. Als Frau und Tochter fühle ich mich hier instrumentalisiert. Angst vor Menschen mit Migrationsgeschichte habe ich nicht, vielmehr geht die Gefahr generell von Männern aus. Es ist auch nicht unbedingt die Straße, die eine Gefahr für Frauen darstellt: Ihr Zuhause ist für FLINTA*-Personen ein gefährlicher Ort. Ein Viertel aller Frauen erlebt körperliche oder sexuelle Gewalt in ihrer Partnerschaft. Das Problem ist also ganz klar strukturelle Gewalt gegen Frauen!

Was bewirkt eine solche Äußerung in der öffentlichen Wahrnehmung?

Lena Seidel: Was ich mich gefragt habe, ist, was er uns mit seiner Äußerung eigentlich sagen möchte. Sie suggeriert, dass migrantische Männer generell eine Gefahr für Frauen sind. Das stimmt nicht und darf auch nicht so stehen gelassen werden! Er stellt die Aussage als „geläufige“ Meinung da. Doch er berührt hiermit meiner Meinung nach das allgemeine Menschenrecht (Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte). Das wir im Übrigen auch in unserem Grundgesetz anerkennen (GG Art. 1 Abs. 2). Deshalb ist es umso wichtiger, dagegen laut zu werden und auf die Straße zu gehen.  

Julia Aertken: Seine Aussage klingt, als seien nicht alle Menschen gleich schützenswert. Das ist gefährlich. Sätze wie diese wirken sich besonders auf betroffene Menschen aus – Angst, Wut oder das Gefühl, nicht als Teil der Gesellschaft gesehen zu werden, sind die Folge. Und das, obwohl viele hier geboren und sozialisiert sind, hier arbeiten und sich engagieren. Ich kann mir nur vorstellen, dass sich diese Aussagen für sie anfühlen müssen wie ein Schlag ins Gesicht. Und wir sprechen hier von rund 25 Prozent unserer Gesellschaft.   

Was müsste geschehen, um stattdessen mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt und mehr Gleichberechtigung zu erwirken?  

Lena Seidel: Aussagen wie diese zeigen, dass wir noch lange nicht in einer gleichberechtigten Gesellschaft leben. Ganz im Gegenteil – momentan vollziehen wir einen großen Rückschritt, was Themen wie Zuwanderung, Menschenrechte und Gender angeht. Wir leben in einer Demokratie, in der wir uns auf Gesetze, eine Verfassung und eine gemeinsame Umgangsform geeinigt haben. Der Schutz von Minderheiten inbegriffen. Anstatt so lapidar hinzustellen, dass Menschen, die nicht deutsch aussehen, ein Problem im Stadtbild darstellen, sollte man Begegnungsangebote und Schutzräume schaffen, dazu Strukturen für mehr Teilhabe. Und wir sollten verstärkt zu Diskriminierungsformen aufklären. Der Bundeskanzler sollte sich klar und unmissverständlich gegen Rassismus und Frauenfeindlichkeit positionieren.

Wie beeinflusst das Thema Ihre Arbeit?

Julia Aertken: Das Thema beeinflusst unsere Arbeit auf jeden Fall! Wir setzen uns täglich für politische Bildung, die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und ein demokratisches Miteinander ein. Aufklärungsangebote zu den unterschiedlichen Diskriminierungsformen und ihrer Intersektionalität für Fachkräfte zu schaffen, stellt einen wesentlichen Bestandteil unserer Arbeit dar.  

Vielen Dank für das Gespräch! 

Das Interview führte Matthias Schwerdtfeger.

 

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