„Gewaltiger Stresstest für die Gesellschaft, den gefühlt Jugendliche ausbaden müssen“

Interview: Warum das Programm „Respekt Coaches“ wichtig für die Akzeptanz von Demokratie bei jungen Menschen ist


Das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Programm „Respekt Coaches“ ist Teil der Jugendmigrationsdienste (JMD). Der Internationale Bund (IB) ist einer der damit betrauten Träger.

Das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Programm „Respekt Coaches“ stärkt das Demokratieverständnis junger Menschen und trägt somit zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Es ist ein wichtiges politisches Signal, dass die zu Jahresbeginn fehlenden 15 Millionen Euro für 2022 wieder im Haushalt eingestellt sind. „Allen, die dazu beigetragen haben, dass die Finanzierung der Respekt Coaches für dieses Jahr gesichert werden konnte, möchte ich meinen herzlichen Dank aussprechen! Es zeigt, dass unsere politische Lobbyarbeit – hier im Verbund mit den anderen beteiligten Trägern – wirkt“, sagt Thiemo Fojkar, Vorstandsvorsitzender des Internationalen Bundes (IB).

Sigrid Pötter ist Diplom-Sozialpädagogin und arbeitet für den IB Südwest beim Jugendmigrationsdienst Kassel als Respekt Coach. Sie berichtet aus der Praxis:

1. Inwiefern ist der Krieg in der Ukraine ein Thema in der Arbeit der Respekt Coaches?

Sigrid Pötter: „Zu Beginn des Ausbruchs bzw. der Invasion durch Russland in der Ukraine war das Thema an der Schule, an der ich tätig bin zunächst sehr präsent. Schüler*innen und Lehrer*innen schienen gleichermaßen betroffen wie gelähmt. In meinen Sprechstunden haben wir zusammen mit der Schulsozialarbeit Gesprächsmöglichkeiten angeboten, um das aktuelle Geschehen auf psychosozialer Ebene aufzugreifen. Gleichzeitig entwickelten wir eine Gruppenarbeit für zwei Berufsfachschul-Klassen mit besonderem Förderbedarf.  Dort sollte das Thema Krieg für vier Schüler*innen in einem Rap-Workshop thematisiert werden. Die Schüler*innen wollten einerseits ihre persönlichen Erfahrungen der letzten Monate mit der Corona-Pandemie in Liedtexten bearbeiten und loslassen sowie zugleich ihre lähmende Angst vor Krieg und Gewalt mit Musik bekämpfen. Zitat einer Schülerin: „Ich bin wie gelähmt und würde am liebsten alles rausschreien!“

 

2. Welche Reaktionen erleben Sie bei den Kindern und Jugendlichen zum Krieg?

Sigrid Pötter: „Aktuell scheint der Krieg wieder in die Ferne zu rücken. Die Betroffenheit der Schüler*innen, die nicht durch Verwandtschaftsverhältnisse oder ähnliches nah dran sind, ist zunächst sehr zurückgegangen. Der Wunsch nach einer Normalität und einer “normalen“ Unbeschwertheit ist extrem groß. Alles, was diesen Eindruck trübt, wird bei etlichen Jugendlichen ausgeblendet. Ich sehe das als eine klassische Überforderung aus den vergangenen zweieinhalb Jahren.“

 

3. Wie können Sie die Möglichkeiten des „Respekt Coaches“-Programms nutzen, um das Thema Ukraine-Krieg an Schulen zu bearbeiten?

Sigrid Pötter: „Tatsächlich war ich zu Anfang skeptisch, ob dieses Thema nicht grundsätzlich, bezogen auf Inhalte und Fakten, in den Politikunterricht gehört. Allerdings, so wurde allen schnell klar, transportiert der Krieg in der Ukraine besondere Herausforderungen für dieses Fach. Es stellten sich bei Lehrern*Lehrerinnen die folgenden Fragen: Wie soll mit der bei Jugendlichen ausgelösten Angst und Fassungslosigkeit im Unterricht umgegangen werden? Wie soll über den Krieg gesprochen werden? Welche Herausforderungen entstehen auf moralischer Ebene? Das habe ich dann mit der Schulsozialarbeit und Lehrkräften diskutiert. Dabei wurde deutlich, dass wir das Thema im Programm Respekt Coaches aufgrund der Komplexität einschließlich der medialen Berichterstattung sehr gut in unserer Gruppenarbeit behandeln können. Hinzu kommt, dass der Lehrplan kaum Kapazität dafür bietet. Ich denke dabei als ein Beispiel an Medienkompetenz-Angebote mit medienpädagogischer Expertise. Und dabei sollte es darum gehen, Fakten sachlich aufzugreifen und auf der Grundlage von Quellen den Konflikt aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, möglicherweise auch unter emotionalen Aspekten.“

 

4. Inwiefern arbeiten Sie mit den Kindern und Jugendlichen zu den Themen Rassismus, Homophobie und Mobbing?

Sigrid Pötter: „Unter Zuhilfenahme von verschiedenen Methoden und Medien werden Situationen zu den Themen Verletzung, Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus erarbeitet. Unser Ziel ist dabei, einen wertschätzenden und respektvollen Umgang untereinander zu fördern und Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen zu entwickeln. Außerdem versuchen wir in der Gruppenarbeit, verschiedene Gruppenzugehörigkeiten und gesellschaftliche Ungleichverhältnisse und Diskriminierung sichtbar zu machen. Zudem werden eigene Stereotype reflektiert. Wir wollen zum einen damit das Verantwortungsbewusstsein für sich selbst und andere stärken, und zum anderen die Wahrnehmung zu diskriminierenden Verhalten sensibilisieren sowie dazu Handlungsstrategien entwickeln. Dazu gehört natürlich auch die Förderung von Empathie und Solidarität für von Diskriminierung Betroffene. Wichtig ist dabei auch die Reflexion der eigenen, privilegierten Position in der Gesellschaft.“

 

5. In welchem Maße untergraben Verschwörungsmythen bei jungen Menschen aus Ihrer Sicht die Zustimmung zur Demokratie?

Sigrid Pötter: „Zum jetzigen Zeitpunkt ist das Thema in den Klassen, in denen ich arbeite, sehr präsent. Das liegt allerdings daran, dass die Stimmung hierbei durch die Einschränkungen der Pandemie aufgeheizt wurde.“

 

6. Was kann man dagegen tun?

Sigrid Pötter: „Wir entwickeln zu den Themen „Verschwörungsmythen“ und „Fake News“ zusammen mit der Kasseler Medienwerkstatt Workshops. Dabei wird in 90- bis 180-minütigen Einheiten pro Schulklasse ein grundlegendes Verständnis darüber vermittelt, was Fake News sind, welche Arten es davon gibt, welchen Wirkmechanismen sie folgen, warum es Fake News gibt, wem sie schaden und wie sie enttarnt werden können.“

 

7. Wie groß ist aus Ihrer Sicht der Beitrag des Programms Respekt Coaches für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Sigrid Pötter: „Meines Erachtens nach unterliegt unser gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Corona und den damit zusammenhängenden ordnungspolitischen Maßnahmen einem gewaltigen Stresstest, den viele Jugendliche gefühlt für sich ausbaden müssen. Leider dreht sich die öffentliche Diskussion, wenn es um Belange von Kindern und Jugendlichen geht, aber noch immer vor allem um formale Bildung in Schule und die Betreuung. Die geforderte Demokratisierung der Lebenswelt und Beteiligungen junger Menschen an politischen Entscheidungen – zum Beispiel durch die strukturelle und gesetzliche Etablierung von Jugendmitbestimmungsgremien und Partizipation findet derzeit leider noch immer nur auf dem Papier statt. Das Programm Respekt Coaches ermöglicht eine nonformale Auseinandersetzung mit politischen und lebensnahen Themen entlang der Lebenswelt junger Menschen, wir ermöglichen Teilhabe durch Partizipation bereits in der Themenauswahl.“

 

8. Sollte das Programm aus Ihrer Sicht langfristig angelegt sein und (falls „ja“) warum?

Sigrid Pötter: „Das Programm fängt nun nach rund drei Jahren an zu laufen; flexible Maßnahmen wie unsere durch partizipative Prozesse entstandenen Angebote müssen sich in den starren Strukturen von Schule erst einmal einfügen und etablieren. Außerdem meine ich, dass Schulen aufgrund des enormen Mangels an zeitlichen und personellen Ressourcen sowie teils fehlender Expertise im Bereich politische Bildung auf außerschulische Akteure angewiesen sind. Ja, es sollte also langfristig angelegt sein, denn nur so kann sich eine ganzheitliche Präventionsstrategie in Zusammenarbeit mit den verschiedensten Akteuren vor Ort, wie Vereinen, Jugendhilfe und der Kommunen konstituieren und erfolgreich sein. Diese Prozesse brauchen Zeit und sind nicht in ein bis zwei Jahren erreicht.“

 

Damit die Arbeit der Respekt Coaches nachhaltig wirken kann, ist eine langfristig abgesicherte Finanzierung essenziell. Daher wird sich der IB weiterhin für das Programm – wie auch für weitere Maßnahmen der Politischen Bildung und Demokratieförderung – hinsichtlich finanzieller und inhaltlicher Rahmenbedingungen politisch einsetzen. Zudem befürwortet der Internationale Bund die Einführung eines Demokratiefördergesetzes.


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